Matthias Jung


 

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Zeitsprung - Gemeinde 2030

 

 

Betlehem II.

Predigt am Heiligen Abend 2012

»Maria aber bewahrte alle Worte und bewog sie in ihrem Herzen.«
(Lukas 21,19 BigS)

 

Liebe Gemeinde,
Heiliger Abend in Betlehem. In den Häusern gehen die Lichter an. Familien setzen sich zu Tisch, die wohlhabenden Reisenden in der Herbergen ebenfalls. Die Wirtsleute strahlen und zählen im Kopf schon die Taler. Auch andere rechnen zusammen, die Steuerbeamten des Kaisers schwitzen noch an ihren Tischen über den Listen im verlöschenden Tageslicht.

Die Volkszählung des Kaisers brachte für einige Aufträge und Geld, für die meisten aber nur Ärger und Aufwand. Alle Menschen sollten sich aufmachen, nur um sich in die Steuerlisten einzutragen. Und da verstanden die Römer keinen Spaß. Der römische Geschichtsschreiber Lactantius berichtete über die Volkszählungen seiner Landsleute:

»In den Städten wurde die Bevölkerung zusammengetrieben, alle Marktplätze waren verstopft von herdenweise aufmarschierenden Familien. Überall hörte man die Schreie derer, die mit Folter und Stockschlägen verhört wurden... Und wenn der Schmerz gesiegt hatte, schrieb man steuerpflichtigen Besitz auf, der gar nicht existierte.«

Kein Wunder, dass Steuerschätzungen äußerst unbeliebt waren. Aber der Kaiser Augustus brauchte Geld. Immer mehr Geld, für was auch immer. Wahrscheinlich für sein Militär und den Straßenbau, damit seine Truppen noch schneller nach Nord und Süden, Osten und Westen flitzen konnten, um Aufstände niederzuschlagen. Die flackerten immer wieder auf, weil Unterdrückung, Ausbeutung und Korruption an der Tagesordnung waren. Knappe 70 Jahre nach Jesu Geburt erhob sich das jüdische Volk und es endete im Desaster...

Also los, die Pflicht ruft, der Staat braucht Geld. Marsch, marsch, macht euch alle auf in den Geburtsort. Wenn dabei ein paar – buchstäblich – auf der Strecke bleiben, was soll´s, es sind nur die Ärmsten, die wieder einmal nicht durchhalten. Die Wohlhabenden dagegen werden die Reise in ihre Heimatorte eher als Urlaub aufgefasst haben, sie konnten sich Übernachtungen in den Herbergen leisten, deswegen waren die in Betlehem wahrscheinlich auch so voll. Heiliger Abend in Betlehem. In Betlehem I.

Denn es gab noch ein anderes Betlehem. Ich nenne es Betlehem II. In den Hinterhöfen ging es anders zu. Da freute sich niemand über Verwandtschaftsbesuch, da wurde kein Geld gezählt oder von den Folterknechten versoffen. Hier finden wir die, die sich herum geschubst vorkamen. Oder die sich jetzt nach der Eintragung in die Steuerlisten fragten, wie es weiter gehen soll. Manch einer hatte aus lauter Angst zu viel angeben und stand vor dem Problem, wie er nun das Geld aufbringen soll. Hier in Betlehem II leben auch die, die in der Weihnachtsgeschichte nicht erwähnt werden, denen sich der erwachsene Jesus aber zuwenden wird: Aussätzige zum Beispiel, blinde und lahme Bettler, verarmte Witwen... Und ganz sicher auch viele, viele Kinder. Sozialversicherungssystem? Gab es nicht. Und zu denen in Betlehem II zählen auch die Hirten draußen vor den Stadtmauern. Keine romantischen Naturburschen, braun gebrannt und mit Schäferhund an der Seite, auf den Hirtenstab gestützt. Eher gescheiterte Existenzen, sicher auch mal mit krimineller Vorgeschichte. Hier, in Betlehem II stranden Maria und Josef, die vorne anklopfen, aber es öffnet sich nur hinten ein Stall, schmutzig, dreckig. Mal ehrlich: Kein Ort, an dem eine Frau ein Kind zur Welt bringen möchte.

Bethlehem I und Betlehem II. Zwei Welten, und dennoch Tür an Tür.

Am Rand der Städte wohnt die Armut, damals wie heute. Hier kehren Maria und Josef ein, hier finden sie Aufnahme und Unterkunft. Hier wird Jesus geboren. In Betlehem II wird die Nacht hell und Engel stimmen ein Lied für die Hirten an. Hier wächst Neues. Nicht das geschäftige und wohlhabende Bethlehem I, sondern Betlehem II, das der Vergessenen und Armen, wird zum Ausgangspunkt in dieser Heiligen Nacht. Hier kommt Gott den Menschen nah. Hier. Nicht im Glanz der Hauptstraße, sondern in den dunklen Ecken, in die wir uns nicht hineinwagen. Sind wir ehrlich: Wir alle, die wir hier heute Abend sitzen, leben doch eher auch in Betlehem I.

Müssen wir uns deswegen schämen? Ein schlechtes Gewissen haben? Nein. Niemand von uns kann etwas dafür, dass wir auf der Sonnenseite des Lebens geboren wurden, weltweit gesehen, in Betlehem I und nicht in Betlehem II. Niemand hat sich seinen Geburtsort, sein Heimatland, seine Eltern ausgesucht, niemand.

Aber wir müssen schon erkennen und akzeptieren, es gibt unterschiedliche Welten. Und wir hören: Gott kommt in Jesus zur Welt und der Stall mit der Krippe steht in Betlehem II. Und das ist kein Zufall, sondern gottgewollt. Und wenn wir das Wunder von Weihnachten nicht nur sehen, sondern auch erleben wollen, dann müssen wir uns dahin aufmachen, von Betlehem I hinübergehen nach Betlehem II. Der König der Welt kommt nicht im Palast des Machthabers zur Welt, die Krippe steht nicht im Scheinwerferlicht. Das Umfeld, in dem Gott seinen Sohn zur Welt kommen lässt, ist gut gewählt. Im Fokus stehen zwei Menschen, hin und hergeschickt, zwischen Angst und Sorgen, Hoffnung und Liebe. Weil irgendwer Steuern haben will. Geld haben will. Aber nicht Augustus verkündigen die Engel die Friedensbotschaft, sondern den Hirten. Nicht auf den Kaiser setzt Gott seine Hoffnung, sondern auf arme Hirten, auf ein unehelich geborenes Kind, kurz danach auf der Flucht wie Abertausende in diesen Tagen rund um unseren Erdball. Seither wird die Hoffnungsbotschaft verkündet. Jahr für Jahr.

Aber lohnt es sich? Hat sich die Welt gebessert seit Jesu Geburt? Und wenn wir da nein sagen, sollten wir das Ganze nicht besser lassen? Oder gut, wir behalten die Weihnachtsmärkte und die Geschenke, sonst bricht die Wirtschaft noch mehr ein und Ruhepausen, ja gut, irgendwie brauchen wir die ja auch. Aber dieses ganze religiöse Geschwafel von Jesus und seinem Gott, das schieben wir doch besser zur Seite, bringt doch nichts, hat die Geschichte gezeigt und kaufen kann ich mir davon auch nichts.

Wohl wahr. Kaufen kann ich mir davon nichts. Aber genau darin liegt der Übergang zur Wahrheit und zur Botschaft. Es gibt Dinge, die kann man nicht kaufen. Es gibt Dinge, die lassen sich nicht in Geld definieren. Gott sei Dank.

Geld, Geld, Geld. Wenn ich auf dieses Jahr 2012 zurückschaue, dann ist Geld etwas, das mich fassungslos werden lässt. Steuern und Finanzen, Geld und Bankenkrise, muss ich da noch was zu sagen. Sparen, sparen, ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ich kann das Wort nicht mehr hören. Geld regiert die Welt, mehr denn je, so scheint es, und zugleich breitet sich das Gefühl aus, dass da irgendwas ganz fürchterlich schief läuft. Dieses Gefühl ist kaum zu fassen, und das macht das Ganze so unheimlich. Wenn ich das mit der Weihnachtsgeschichte zusammenzubinden suche, dann stelle ich fest: In Betlehem II spielt Geld so gut wie keine Rolle.

Denn: Gottes Liebe kann ich mir nicht kaufen. Ich bekomme sie geschenkt. Sie ist bedingungslos. In der Heiligen Nacht hören wir: In Gottes Reich ist nicht kaufen und bezahlen, ist nicht leisten und verdienen. Was für ein Glück. Was für eine Entlastung. Was wird in Maria und Josef, den Hirten und den anderen in Betlehem II vorgegangen sein, wo sie das gehört haben?! Die werden sich gefreut haben. Und die – wir – in Betlehem I? Manch einer wird gesagt haben: das ist alles nur weltfremde Spinnerei. Mag sein. Aber weltfremd, was heißt das schon? Die »Welt« ist doch auch nur das, woran wir uns gewöhnt haben. Wir haben uns dran gewöhnt, dass die Börsennachrichten als wichtiger angesehen werden als das Wort zum Sonntag. Deswegen laufen die montags bis freitags direkt vor der Tagesschau und das Wort zum Sonntag samstags im Spätprogramm. Es war mal anders, liebe Gemeinde, es gab mal eine Zeit, da kam vor der Tagesschau der Wetterbericht. Also, es komme mir keiner mit weltfremd. So als ginge es hier um unumstößliche Naturgesetze. Betlehem I neigt dazu, Gewordenes als Ewig zu bezeichnen. Deswegen ist die Verlustangst hier auch so groß. In Betlehem II regiert ein anderer Geist. Da gibt’s nicht so viel zu verlieren. Hier dockt Gott sich wieder an.

Und auch wir sind eingeladen. Hinzugehen wie die Sterndeuter, die wir im Lauf der Zeit zu Königen gemacht haben. Und die ein Gegenbild zum König Herodes sind, dem die Botschaft von Weihnachten so viel Angst macht, dass er seine Soldaten zum Töten losschickt. Ja, auch Könige sind willkommen und das ist die gute Botschaft für uns in Betlehem I. Auch wir müssen nur hinübergehen zum Stall. Bewusst unsere Erlösungsbedürftigkeit eingestehen, die Verwicklung in all die Schuld und Verstrickung, die Menschen leiden und verhungern lässt bei ausreichend Nahrungsmitteln auf der Welt und so weiter und so fort. Nein, ein schlechtes Gewissen brauchen wir nicht zu haben, dass es uns äußerlich so gut geht, denn genau dies ist der Wille und der Wunsch Gottes für alle Menschen. Frieden auf Erden verkündigen die Engel, als Ziel, als Hoffnung, als Kern der Weihnachtsbotschaft. In Frieden leben zu können, im äußerlichen wie innerlichen Frieden. Der gilt denen in Betlehem II genauso wie denen in Betlehem I. Nur von dort aus ist der Weg zur Krippe weiter.

Und doch: Niemand von uns wird die Welt retten, kein einzelner und wir werden das auch nicht als Gruppe als Kirche hinbekommen. Machen wir uns da nichts vor. Aber Beiträge können wir dazu leisten, dass Frieden eine Chance bekommt, hier unter uns, in Gemeinden und Familien, in Gemeinschaften und Städten, auch im Zusammenleben von Völkern, Kulturen, Nationen und Religionen. Die Kollekte am Heiligen Abend ist traditionell hoch und das ist gut so, da geschieht genau so ein Beitrag – Solidarität, Mitgefühl, Teilen. Jeder Graben der überwunden wird, jeder Hügel der abgetragen wird, ist ein Zeichen, dass die Botschaft von Weihnachten nicht nur eine wirklich schöne Geschichte ist und bleibt, sondern das sie wahr wird. Unter uns. In mir. Und das geschieht unter uns, ist immer wieder geschehen und kann und wird auch weiter geschehen. Wenn Menschen die Botschaft der Engel hören und sich auf den Weg machen.

Lieb Gemeinde,
manchmal ist es gut, nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen und etwas zu tun. Ich möchte Sie einladen, symbolisch sich auf den Weg zu machen von Betlehem I nach Betlehem II. Sie haben alle ein Teelicht am Eingang erhalten. Sie sitzen hier auf den Stühlen (und ich gehöre eigentlich auch auf Ihre Seite, wenn ich denn Ihnen auch jetzt gegenüberstehe) und hier vorne steht der Altar und die Krippe. Wenn Sie so wollen, Betlehem I und Betlehem II. Wenn jetzt gleich die Orgel eine Melodie anstimmt, sind Sie alle eingeladen, sich auf den Weg zu machen. In Gedanken noch einmal der Predigt nachzugehen, sie in ihrem Herzen zu bewegen, so wie es von Maria auch erzählt wird. Und vielleicht geschieht es auf dem Weg, dass sie spüren, merken, wie die Geschichte wirkt und sie ahnen, erkennen, worin Ihr Beitrag zum Frieden bestehen kann, als Antwort auf das Gehörte. Und hier vorne können Sie Ihr Teelicht anzünden und es um die Krippe herum aufstellen. Und wenn Sie dann zurückgehen, von Betlehem II nach Betlehem I, dann lassen Sie etwas von sich hier vorne stehen und nehmen hoffentlich etwas anderes mit auf Ihren Platz und nachher in Ihre Häuser und in Ihr Leben.

Amen.

(Anregungen und einige Formulierungen sind aus einer Predigt von Margot Runge übernommen: Das andere Betlehem.)